Bericht aus Budapest

Budapest – Am 26. November forderte Marton Gyöngyösi, Abgeordneter der rechtsradikalen Jobbik-Partei, im ungarischen Parlament, alle Juden zu erfassen, die als Abgeordnete im Parlament sitzen oder der Regierung angehören. Juden als Staatsbürger Israels seien ein „Risiko für die nationale Sicherheit“.

Schon lange geplant war zwei Tage später eine Delegation des Internationalen Rats der Christen und Juden (ICCJ) nach Budapest, um sich am 28. und 29. November bei verschiedensten Begegnungen aus erster Hand über aktuelle Erfahrungen der Judenfeindschaft in Ungarn zu informieren. Aktueller hätte der Anlass des Besuchs kaum sein können, obwohl der ICCJ und seine Mitgliedsorganisationen schon lange über die Lage des Donaulandes beunruhigt waren. „In Ungarn gibt es noch viele geschichtliche Erfahrungen, die nicht aufgearbeitet sind“, erzählte der an der Central European University lehrende Historiker Michael Miller der Delegation, die von ICCJ Vizepräsident Ehud Bandel und ICCJ-Generalsekretär Dick Pruiksma angeführt wurde. Daneben nahmen ICCJ-Vorstandsmitglied Liliane Apotheker und die Leiterin der ICCJ-Jugendgruppe, Rebecca Brückner, daran teil. Markus Himmelbauer, Geschäftsführer der österreichischen Mitgliedsorganisation des ICCJ, komplettierte das Team.

Der Schatten der Geschichte
Die Gruppe erfuhr, dass die 1920-er Jahre einen positiven Bezugspunkt der heutigen Politik für die ungarische Identitätsbildung darstellten. Professor Miller wies aber auf die antisemitische Schlagseite dieser Epoche hin: etwa Einschränkungen für jüdische Hörerinnen und Hörer an den Universitäten und das Wirken des katholischen Bischofs Ottokar Proházka. Über den Einmarsch der Sowjetarmee 1944 gibt es unterschiedliche Narrative: Für Juden war es auch die Befreiung vor der Vernichtung durch das faschistische Regime, für andere nur der Beginn von Jahrzehnten von Unterdrückung und Entfremdung. So nahmen viele Juden bald wichtige Positionen in der kommunistischen Partei ein, was aber nicht heißt, dass diese sich dadurch insgesamt aus dem Kontext des alltäglichen Antisemitismus gelöst hätte. „Leben und Besitz von Juden sind heute in Ungarn nicht in Gefahr, aber sicherlich jenes von Sinti und Roma“, so die Einschätzung von Professor Miller, die auch andere Gesprächspartner teilten: Rabbi Ferenc Raj von der jüdischen Reformgemeinde und Zsusza Fritz, Leiterin des offenen Begegnungs- und Kulturzentrums Bálint-Ház. Bei den Einen gingen wegen des aktuellen Anlasses die Emotionen hoch, für Zsuzsa Fritz ist es das Gegenteil, nämlich eine „politisch sehr deprimierende Situation. Man fühlt sich irgendwie allein gelassen.“

Protestieren oder nicht?
Die Delegation traf die Spitzen des Verbands jüdischer Glaubensgemeinschaften in Ungarn (Mazsihisz): Präsident Peter Feldmajer, Generalsekretär Gusztav Zoltai und Oberrabbiner Robert Frohlich von der Dohány-Synagoge. Hier fielen deutliche Worte über Jobbik als „Nazi-Partei“ und die dringende Bitte, der ICCJ und seine Mitgliedsorganisationen mögen sich bei der ungarischen Regierung bzw. bei den jeweiligen Botschaften für eine klare Abgrenzung von dieser Art Politik einsetzen. Besondere Unterstützung erfährt die jüdische Gemeinde von der „Faith Church“, der größten evangelikalen Pfingstkirche in Ungarn.
Zurückhaltender, was öffentlichen Prostest betrifft, war der römisch katholische Bischof János Székely, Beauftragter der ungarischen Bischofskonferenz für die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Man sollte nicht jede Ausfälligkeit von Jobbik kommentieren, meinte er. Es gäbe grundlegende Stellungnahmen gegen den Antisemitismus gemeinsam von der katholischen, lutherischen und calvinistischen Kirchenleitung, diese hätten Bestand. Eine gegen Juden gerichtete Parlamentsrede des Jobbik-Abgeordneten Zsolt Barath wurde im April von Primas Kardinal Peter Erdö, dem reformierten Bischof Gusztav Bölcskei sowie dem evangelischen Bischof Peter Gancz zurückgewiesen. Barath hatte kurz vor Ostern den Fall eines angeblichen Ritualmords, der sich zum Pessachfest vor 130 Jahren ereignet haben soll, als historisch bezeichnet. „Der christliche Glaube und die christliche Liebe zum Mitmenschen lässt sich unter keinen Umständen mit Antisemitismus und Schüren von Hass gegen religiöse Gemeinschaften und Volksgruppen vereinbaren. Uns beunruhigt besonders, dass es zu dieser Hassrede im Parlament gekommen ist“, hieß es in der Stellungnahme damals.

Übergriffe dokumentieren
Székely ist Vorsitzender des „Rats der Christen und Juden“, der mit Delegierten der Kirchen und jüdischen Gemeinden offiziell beschickt wird – eine der beiden ungarischen Mitgliedsorganisationen des ICCJ. Hier werden Themen diskutiert und für die eigenen Gemeinschaften aufbereitet. Als Institution tritt er selbst nicht an die Öffentlichkeit. Es soll nun eine Broschüre für den christlichen Religionsunterricht über jüdische Kultur und Geschichte für 14 bis 18-Jährige erarbeitet werden. Auch wurde eine Monitoring-Gruppe eingerichtet: Erfasst werden sollen antisemitische Vorkommnisse, rassistische Übergriffe gegen Roma und anti-christliche Aktionen, die Beobachtungen werden an Kirchenleitungen und die Regierung weitergeleitet.

Im Juni hatte ein verbaler Angriff auf den 90-jährigen ehemaligen ungarischen Oberrabbiner József Schweitzer inmitten der Budapester Innenstadt breite Empörung ausgelöst. Ein Unbekannter war auf Schweitzer, der Inhaber zahlreicher in- und ausländischer Auszeichnungen ist, herangetreten und ihn u.a. mit den Worten „Ich hasse alle Juden“ beschimpft. Der Verband jüdischer Glaubensgemeinschaften in Ungarn (Mazsihisz) protestierte in einer Stellungnahme gegen die „Ungarn überflutende Welle von rassistischem Hass“. Auch die Oberhäupter der drei großen christlichen Glaubensgemeinschaften (katholische Kirche, Reformierte, Protestanten) schlossen sich umgehend an und verurteilten den Angriff scharf. Die ungarische Regierung verurteilte „auf das schärfste die Beleidigungen gegenüber Dr. József Schweitzer, dem weltbekannten Wissenschaftler und pensionierten Oberrabbiner des Landes, einen der geschätztesten ungarischen Intellektuellen.” Jutta Hausmann, Professorin für alttestamentliche Bibelwissenschaft an der lutherischen theologischen Universität gab im Gespräch mit der ICCJ-Delegation zu bedenken, dass der allseits beliebte ehemalige Oberrabbiner selbstverständlich mit der Solidarität aller rechnen könnte, als Einzelperson, nicht aber die jüdische Gemeinde als Ganze.

Alltägliche Klimavergiftung
Rassismus sucht stets einen Grund, das Trennende zu begründen und eine Hierarchie zwischen „uns“ und „den Anderen“ herzustellen. Roma werden verachtet, weil sie „anders“ sind, erfolgreich assimilierte Jüdinnen und Juden („Kaffeehausjuden“, so Professor Miller) sind unsichtbar, nicht greifbar und daher als Projektionsfläche bestens geeignet. Wenn es keinen Unterschied gibt, wird dieser konstruiert, um sich vom Anderen abzuheben.
Die rechtsextremistische Jobbik-Partei nützt den sog. „neuen“ Antisemitismus als politisches Kalkül. Israel-Kritik dient ihr zur Einschüchterung und Verdächtigung von Jüdinnen und Juden im eigenen Land. „Israel führt das größte Konzentrationslager der Welt“ heißt es etwa auf deren Website im November 2012, gemeint ist der Gaza-Streifen. Anders als im Westen gibt es in Ungarn kaum muslimische Immigration, die den Israel-Palästina-Konflikt ins Land tragen könnte.

Doch stieß die ICCJ-Delegation immer wieder auf den ganz traditionellen rassistischen Antisemitismus, sei es, dass ihr darüber berichtet wurde, sei es, dass diese überkommenen Stereotypen im Gespräch als selbstverständliche Tatsachenbehauptung wiedergegeben wurden: Juden hätten die zentralen Stellen in den Medien insbes. im Fernsehen inne; nur ein Jude könne dort Redakteur werden. Israelische Staatsbürger kauften Wohnungen und Häuser in Budapest und schotteten sich in ihren Unternehmen untereinander gegen andere ungarische Betriebe ab. Ganz unverblümt wird darüber im Alltag gesprochen, ohne Beweise, denn „man weiß es ja“. Ganz klar ist aus, warum die Geschäfte der Supermarktkette Tesco flache Dächer besitzen: Damit israelische Hubschrauber darauf landen könnten …

Kultusgemeinde-Präsident Feldmajer wies darauf hin, dass nicht fanatisierte Massen der Armen diesen alltäglichen Antisemitismus schürten. Es seien wohl gebildete „Ehrenmänner“ und aufstrebende Junge im Umfeld von Jobbik und deren Medien. Und er habe seinen Nährboden bis weit in etablierte Kreise der Gesellschaft, wo dieser Diskurs in den vergangenen Jahren mehr und mehr gesellschaftsfähig geworden sei.
Für József Szécsi, Gründer und Generalsekretär der christlich-jüdischen Gesellschaft ist Antisemitismus eine Folge der prekären wirtschaftlichen Lage in Ungarn. Antisemitismus als Folge der Schuldenkrise? Dann müsste dies wohl in Ungarn ein ganz neues gesellschaftliches Phänomen sein. Wohl scheint es eher so zu sein, dass Antisemitismus politisch benutzt wird, um aus der wirtschaftlichen Krise politisches Kapital zu schlagen. Doch die größere Gefährdung der Roma durch den alltäglichen Rassismus im Land sieht auch Szécsi.

Wie weit die dezidiert nationalistische Politik der mit Zweidrittelmehrheit regierenden Fidesz-Partei antisemitische Tendenzen begünstigt, darauf fand die ICCJ-Delegation keine klare Antwort. In der neuen ungarischen Verfassung sind unterschiedlichste nationale Minderheiten als Teil Ungarns ausdrücklich erwähnt. Die Auslassungen des Jobbik-Abgeordneten Göngyösi verurteile Premier Viktor Orbán am 3. Dezember im Parlament jedenfalls als „unwürdig“. „Die Ungarn verteidigen ihre jüdischen Landsleute“, erklärte der rechtskonservative Regierungschef. Reformrabbiner Ferenc Raj sagte es so: „Die Regierung ist nicht antisemitisch, aber sie flirtet damit.“

Bildung gegen die Demagogie
Bildungsarbeit wurde immer wieder als Heilmittel gegen diese Tendenzen genannt: sachliche Information über das Judentum in den Schulen, wie es etwa die NGO-Initiative Haver macht. Denn das Judentum komme im ungarischen Lehrplan einzig im Zusammenhang mit der Schoa vor. „Das ist nicht der Ort, um über seine spirituelle Tiefe und die Verwurzelung in der Geschichte Ungarns zu sprechen“, sagt Haver-Geschäftsführer Mircea Cernov. Generell gelte: Selbstbewusste und kritisch denkende Menschen sind gegenüber antisemitischen Verführungen widerstandsfähiger.
Sehr bemüht ist die christlich-jüdische Gesellschaft auf dem Gebiet der Bildung, insbesondere Jószef Szécsi und der Zeitzeuge Béla Varga. Zuletzt sprach er im September auf Einladung der Basisgemeinde Sant‘ Egidio vor 2.000 Jugendlichen in Auschwitz. Doch mit einem Jahresbudget von nicht einmal 3.000 Euro – davon nicht einmal 10 Prozent von der katholischen Kirche und ganz ohne staatliche Unterstützung – stößt die öffentliche Wirksamkeit (denkbar wären Broschüren, Bücher, Website, Vorträge, Medienkontakte) dieses kleinen Kreises rasch an Grenzen. Insbesondere fehlt auch in den Kirchen das Bewusstsein, dass im christlich-jüdischen Dialog nicht nur das historische Jude-Sein Jesu ein Thema ist, sondern dass konkret eine Solidarität mit den jüdischen Gemeinden heute gefordert ist. Bei der calvinistischen Kirche kommt bisweilen eine starke nationalistische Verankerung dazu, die einer Begegnung mit dem Judentum hinderlich ist. Auch sei zu bedenken, wurde berichtet, dass Religionsgemeinschaften nicht unbeträchtliche Mittel aus staatlichen Quellen erhielten, was zur Zurückhaltung führt, sich nicht zu sehr gegen die herrschende Meinung zu exponieren.

Perspektiven
Der Internationale Rat der Christen und Juden möchte insbesondere durch eine Jugendbegegnung den Kontakt mit Ungarn weiter fördern und ein Forum des gegenseitigen Lernens bieten. Unabhängige Initiativen, wie Haver und das Bálint-Ház, die nicht von staatlichen Geldern abhängig sind, sind dabei Garanten für eine offene Diskussionskultur.
Der österreichische Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit möchte die bestehenden Kontakte nach Ungarn weiter pflegen, zu seinen Veranstaltungen nach Österreich einladen und Tagungen und Bildungsinitiativen im kirchlichen Rahmen in Ungarn anregen und selbst nach Möglichkeiten unterstützen.

Markus Himmelbauer
Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Wien
4. Dezember 2012