Ihren Grund scheint diese Polarisierung zu einem großen Teil darin zu finden, dass es noch immer an einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern sowie der Verwirklichung des Ziels zweier Staaten, Israel und Palästina, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite leben, mangelt.
Anstatt diese komplexen Probleme offen zu diskutieren werden Juden und Christen, die am gegenwärtigen Zustand Kritik üben, delegitimiert oder zum Schweigen genötigt, während antisemitische und islamfeindliche Stimmen laut werden. In einem derart hitzigen Klima kann die Verwendung bestimmter, aufgeladener Phrasen wie "Beendet die Besetzung" oder "das Überleben Israels" zu reflexhaften Verdammungen führen, ungeachtet der Bedachtsamkeit oder guten Absicht des Redners oder Autors. Der Grad an Heftigkeit scheint an vielen Orten ein beispielloses Crescendo zu erreichen.
Für eine dem interreligiösen Dialog verpflichtete Organisation, die das Verständnis und die gegenseitige Bereicherung zwischen Juden und Christen (und letztendlich allen Menschen) fördern will, ist eine solche Rhetorik von zunehmend "tabuloser Offenheit" besonders erschreckend. Sie widerspricht den Grundwerten der gegenseitigen Achtung in unseren beiden Traditionen.
Mehrere Vorfälle in jüngster Zeit könnten zur Illustration dieser gegenwärtig vorherrschenden, unberechenbaren Atmosphäre dienen, aber wir wollen uns lediglich auf ein besonderes Beispiel konzentrieren, denn es handelt sich dabei um einen Text, der von religiösen Führungspersönlichkeiten diskutiert und verfasst wurde, denen – wie wir glauben – eine besondere Verantwortung obliegt, die gegenseitige Achtung zwischen den Religionen zu fördern. Wir beziehen uns auf öffentlich gewordene Reaktionen auf die im Dezember 2009 von einer Gruppe palästinensischer Christen publizierte Stellungnahme unter dem Titel: "Kairos-Palästina: Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen". Wir finden in dem Dokument einige bewundernswerte Aspekte, auch wenn wir viele der enthaltenen Vorschläge und Formulierungen ablehnen.
Der Gattung nach handelt es sich bei dem Dokument um eine Klage. Sie richtet sich an palästinensische Christen, lokale Persönlichkeiten, die palästinensische und israelische Gesellschaft, die internationale Gemeinschaft und schließlich an die Christen in aller Welt. Das Dokument schildert die sich verschlechternden Lebensbedingungen der Palästinenser. Die Verwendung der Bibel, um mit ihr die Entrechtung der Palästinenser zu legitimieren, wird scharf kritisiert [2.2-4; 6.1]. Ein solcher Gebrauch der Bibel hat den pastoralen Effekt, dass palästinensische Christen just jener Schriften beraubt werden, die ihnen Inspiration und Hoffnung vermitteln könnten. Das Dokument beklagt die Situation der Palästinenser als eine Katastrophe, für die scheinbar kein Ende in Sicht ist, was auf "die Besetzung" zurückgeführt wird.
Was wir als bewundernswert erachten ist die Tatsache, dass das Dokument ungeachtet der Härten, von denen im Text die Rede ist, sich nicht zu Zorn, Hass oder gar – was heutzutage leider all zu üblich ist – zu hohler Rhetorik herablässt. Stattdessen zeugt das Dokument von großmütigem Geist und hat einige religiöse Einsichten von Gewicht anzubieten, die man von einer Klage nicht unbedingt erwartet.
Es betont die Menschlichkeit eines jeden Geschöpfs, das nach dem Bilde Gottes geschaffen ist [2.1; 8].Es betrachtet das Land als einen heiligen Ort, wo Juden, Christen und Muslime in Liebe und gegenseitiger Achtung zusammenkommen können [5.4]. Es weist alle Formen der Gewalt, von wem auch immer ausgeübt, zurück [5.4.3]. Es betont, dass die Bibel nicht zur Rechtfertigung für die Verletzung von Menschenrechten herangezogen werden darf, sondern als Quelle des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe anzusehen ist [2.4]. Es mahnt zu interreligiösem Dialog und interreligiöser Erziehung, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten [3.3.2; 9.1]. Es breitet eine Botschaft der Liebe und Hoffnung für Juden und Muslime aus [5.4]. Die palästinensischen Autoren des Dokuments weisen eine profunde christliche Überzeugung auf, was von einigen Kritiker übersehen wird: " Wie Christus auferstanden ist und den Sieg über den Tod und das Böse davongetragen hat, so können auch wir, kann jeder einzelne Mensch, der in diesem Land lebt, das Übel des Krieges überwinden" [3.5].
Die spirituelle Ermutigung, die das Dokument demoralisierten Christen anzubieten vermag, scheint uns ein beachtlicher und substanzieller Ausdruck pastoraler Fürsorge zu sein. Es versucht, jungen Menschen Hoffnung zu geben, die ansonsten leicht der Versuchung erliegen könnten, in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu fallen. Es wagt den Blick nach vorne, um palästinensische Christen darauf vorzubereiten, sich als Partner der Israelis zu verstehen, wenn einst der Tag kommt, an dem tatsächlich zwei unabhängige Staaten existieren [9.1.2].
Dies bedeutet freilich nicht, dass wir nicht einige gravierende Differenzen mit bestimmten Merkmalen des Kairos-Palästina Dokumentes hätten, von denen wir einige kurz anführen wollen. Indem wir dies tun, bleibt es gleichwohl unsere Hauptanliegen, zu einem offenen und aufrichtigen Gespräch zwischen den religiösen Führungspersönlichkeiten zu ermutigen, ganz im Gegensatz zu der gegenwärtig weit verbreiteten Tendenz, unterschiedliche Perspektiven zu missinterpretierten oder zu verzerren. Wir hoffen, dass diese Anfragen, die dem Dialog und der Klarheit dienen wollen, den Autoren des Kairos-Palästina-Dokuments hilfreich sein mögen, falls sie einmal einen Kommentar oder eine zweite Auflage des Dokuments erstellen.
1. Einigen Formulierungen scheint eine wohl bedachte Zweideutigkeit inne zu sein, die gleichermaßen eine extrem positive oder extrem negative Lesart erlaubt, jeweils abhängig vom Standort des Lesers. Um ein Beispiel zu nennen: Der Titel "Kairos Palästina" soll gewiss mit Absicht an das berühmte "Kairos Dokument" von Soweto, Süd-Afrika, aus dem Jahre 1985 erinnern, das ebenso wie das Kairos-Palästina-Dokument die Kirchen dazu herausforderte, zugunsten eines unterdrückten und demoralisierten Volkes einzugreifen. Wollen die Autoren des Kairos-Palästina-Dokuments damit nahelegen, dass sich palästinensische Christen oder Palästinenser insgesamt in einer Lage befänden, die der Apartheit vergleichbar ist? Oder ist die Anspielung auf Süd-Afrika nur als rhetorische Strategie zu werten? Es wäre hilfreich, wenn die Bedeutung, die die Autoren mit diesem Titel intendieren, ausdrücklich formuliert würde.
2. Dem Text sind bestimmte Spannungen zueigen: Sind diese bewusst gewollt oder sind sie das Resultat eines Dokumentes, das von einer Autorengemeinschaft verfasst wurde? Beispielsweise beschreibt Punkt 1.5 vorausgegangene Friedensverhandlungen als ergebnislos, notiert, dass "manche Parteien sich auf den Weg des bewaffneten Widerstandes" begaben, und wirft Israel schließlich vor, "dies als Vorwand" zu benutzen, um "seinen Krieg gegen den Terror" zu rechtfertigen. Aber weder wird in diesem Abschnitt definiert, was unter "bewaffnetem Widerstand" zu verstehen ist noch wird ausdrücklich der Gebrauch von Gewalt abgelehnt, wie es an anderer Stelle in Abschnitt 4 der Fall ist. Und selbst in diesem Abschnitt verbleibt eine Zweideutigkeit. Das Dokument drückt seine "Hochachtung vor allen" aus, "die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben" [4.2.5].Schließt dies Selbstmordattentäter oder Heckenschützen mit ein, die sich als Märtyrer für die palästinensische Nation betrachtet haben? Diese Vagheit nährt Skepsis an der Ernsthaftigkeit der hehren Prinzipien, die dem Text zugrundeliegen.
3. Wir stimmen mit dem Kairos-Palästina-Dokument dahingehend überein, dass die jüdisch religiöse Bindung an Eretz Yisrael und die biblischen Landverheißungen nicht simplifizierend interpretiert werden können, um damit moderne Politik, politische Maßnahmen oder Grenzziehungen zu rechtfertigen. Gleichwohl zeigt sich das Dokument erneut ambivalent, wenn es behauptet, dass "unser Land einen universalen Auftrag hat", der als "Auftakt zur vollständigen universellen Erlösung" zu begreifen ist [2.3]. Bedeutet dies, dass eine mögliche Universalität die Partikularität der jüdisch religiösen Bindung an das Land für ungültig erklärt, oder bedeutet es lediglich die Ablehnung eines exklusiv jüdisch religiösen Anspruchs auf das Land?
4. Unser Appell an jedermann, "Habt Erbarmen mit den Worten", bezieht sich auch, wie oben bereits erklärt, auf den zweideutigen Gebrauch von hochgradig aufgeladenen theologischen Formulierungen wie etwa "steinerne Buchstaben", "Sünde" und "heiliger Krieg". Auch wenn in einer ernsten Notlage solche Ausdrücke verständlich sein mögen, sind sie im Blick auf das Ziel, ein maßgebliches Gespräch zwischen gegensätzlichen Kräften zu führen, oft kontraproduktiv. Worin liegt die Absicht der Autoren, wenn sie derart befrachtete Begrifflichkeiten ohne eindeutige Definitionen oder Erläuterungen benutzen?
5. Der verständliche Schrei nach einem "Ende der Besetzung" wird laut, als ob lediglich eine Seite allein, der Staat Israel, für dessen Etablierung und Aufrechterhaltung verantwortlich sei. Aber ebenso wie die gegenwärtige "sündenhafte Situation" in den Handlungen vieler regionaler und internationaler Mächte ihre Ursache hat, müssen nicht ebenso Nachbarländer, deren Verbündete als auch die internationale Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielen, um die Schaffung eines Staates Palästina zu verwirklichen? Auch wenn in Punkt 7 eine breitere Perspektive auftaucht, wird die internationale Gemeinschaft lediglich dazu aufgefordert, ein "System wirtschaftlicher Sanktionen und Boykottmaßnahmen gegen Israel einzuleiten", ohne dabei jegliche notwendige Handlungen seitens Dritter zu berücksichtigen. Wir lehnen diesen verengten Blickwinkel sowohl grundsätzlich ab als auch im Hinblick auf seinen möglichen Nutzen, uns dem Ziel der Schaffung zweier Nachbarstaaten aus Israel und Palästina näherzubringen.
6. Abschnitt 9.3. spricht von "der Staat" im Singular, was einige zu der Frage veranlasst, ob die Autoren des Kairos-Palästina-Dokuments sich der "Zwei-Staaten-Lösung" verpflichtet sehen, oder ob sie sich lediglich deshalb auf "den Staat" im Allgemeinen beziehen, um zu behaupten, dass kein "Staat" an eine Staatsreligion gebunden sein sollte?
Diese und andere ernsthaften Hindernisse oder Fragen zum Kairos-Palästina-Dokument heben unsere Anerkennung für seine oben erwähnten spirituellen Dimensionen nicht auf. Unsere hauptsächliche Absicht in der Diskussion dieses Dokuments zielt nicht darauf, seine Schwächen zu analysieren, sondern seine Autoren für jene Form des respektvollen Dialogs zu gewinnen, von der wir glauben, dass sie für eine gegenseitige Achtung zwischen allen religiösen Gemeinschaften gilt, insbesondere wenn diese von politischen Konflikten belastet sind. Wir hegen Sympathie sowohl für jene Palästinenser, die die Wahrscheinlichkeit eines palästinensischen Staates schwinden sehen als auch mit jenen Israelis, die befürchten, dass ihre Hoffnung, mit ihren palästinensischen Nachbarn in Frieden zu leben, sich als Wunschtraum herausstellt.
Auch eine Reihe von Reaktionen auf das Kairos-Palästina-Dokument werten wir als weitere Indizien für eine zunehmende, dem Dialog abträgliche Polarisierung, die uns mit tiefer Sorge erfüllt. Anstatt sich mit den Stärken und Schwächen des Dokuments ernsthaft auseinanderzusetzen, legen es einige Kritiker darauf an, jegliche Ambivalenz allein in düsterstem Licht zu sehen und äußern ungerechtfertigte Behauptungen, die das Dokument delegitimieren. Beispielsweise zirkuliert im Internet eine Behauptung, der zufolge die Formulierung "toter Buchstabe" in dem Dokument [2.2.2] eine die Hebräischen Schriften herabwürdigende Formulierung im Sinne der Enterbungstheologie darstelle. Tatsächlich aber bezieht sich die Formulierung eindeutig auf (vermutlich christliche und jüdische) fundamentalistische Anwendungen der Bibel auf geopolitische Zusammenhänge, wodurch aus einem Text, der als Bestandteil einer lebendigen Tradition der Interpretation durch eine Glaubensgemeinschaft im Hier und Heute unterliegt, ein unveränderbares Fossil der Vergangenheit gemacht wird. Vollkommen übertrieben stuft ein anderer Autor die Kritik des Dokumentes an Israel als eine "Dämonisierung" Israels ein. Derartige Übertreibungen sind ein Zeichen für die gegenwärtig militante Atmosphäre, in der authentische religiöse Überzeugungen ignoriert werden. "Liebe ist das Gebot Christi, unseres Herrn, an uns, und es gilt für Freunde wie für Feinde" [4.2], schreiben die christlichen Verfasser des Kairos-Palästina-Dokuments. Hat sich der Zynismus im gegenwärtigen Klima schon so breit gemacht, dass authentische spirituelle Äußerungen, in diesem Fall christlicher Natur, in verächtlicher Weise ignoriert werden?
Rabbiner Leon Klenicki (1930-2009) hat in seinen späten Jahren bei vielen Gelegenheiten, in denen die Begegnung zwischen den Religionen einen Punkt großer Spannung erreichte, zum Innehalten aufgerufen und eindringlich darum gebeten: "Habt Erbarmen mit den Worten". Wir rufen alle, die im interreligiösen Dialog in aller Welt engagiert sind, dringend dazu auf, jenen Kräften bewusst zu widerstehen, die einer Polarisierung Vorschub leisten und die bloße Möglichkeit eines solchen Dialogs untergraben.
Wir schließen uns all jenen an, die das Land, das von drei miteinander verwandten Religionen als "heilig" bezeichnet wird, lieben, indem sie ungeduldig den Tag herbeisehnen, an dem es wahrhaftig als Symbol interreligiöser Zusammenarbeit und sogar der Liebe zwischen den beiden Nationen der Palästinenser und der Israelis gelten kann. In der Zwischenzeit aber möge unsere Ungeduld gezügelt werden, indem wir "Erbarmen haben mit den Worten", damit durch Dialog das gegenseitige Verständnis wachsen möge.
26. Juli 2010 - Heppenheim, Deutschland